Fragilità. Nein, das kann nicht sein! Ich habe gerungen, solange ich konnte – und nun stehe ich doch an dem Punkt, von dem ich nicht glaubte, dass er existiert. Weniger als vierundzwanzig Stunden ist es her, seit mir die Frage gestellt wurde: Was lässt dich an Gott zweifeln?
Risposta. Und dich traf die Wucht einer ungeklärten Frage, die du vor dir selbst zu verbergen suchtest?
Fragilità. Nein – das heisst, ja. Aber anders. Ich hatte es kommen sehen, doch das Kind beim Namen nennen zu müssen, das erschreckte mich. Kennst du Bonhoeffers Verständnis von Schuldübernahme?
Risposta. Es sagt mir nichts.
Fragilità. Nun, ich habe mich auch nicht in der Tiefe damit befasst. Doch ich hörte, wie jemand es folgendermassen zusammenfasste: Die Vorstellung, dass es in manchen Situationen nötig ist, eine Sünde zu begehen, um das grössere Übel zu verhindern. Was mich daran zum Erschaudern bringt, ist, dass ich den Grundgedanken in vielen Alltagsfragen wiedererkenne: Wie eindeutig ist die Grenze zwischen Gut und Böse wirklich? Die Bibel markiert sie mit festen Linien, doch wenn man in dem Feld steht, in dem hoch gewachsenen Gras, schweift das Auge manchmal, ohne ihr folgen zu können.
Risposta. Ich glaube zu verstehen: Du zweifelst daran, dass Gottes Wort auch heute noch bedingungslos gültig ist.
Fragilità. Wie erschütternd, dass mein Herz sich auch nur ansatzweise in diese Richtung neigt! Und doch: Ist unsere Zeit nicht zu komplex geworden? Wann, wenn nicht in den letzten Jahrzehnten, beobachteten wir so viele Innovationen zugunsten der Menschheit, aber zum Preis von Menschenrechtsverletzungen? Entwicklungen, die die Lebensqualität der Einen verbessern und die Ressourcen der Anderen zerstören?
Risposta. Und die Bibel reicht hier als moralischer Leitfaden nicht mehr aus?
[Bibeltreue betritt die Szene. Die anderen beiden unterbrechen ihr Gespräch und rücken etwas auseinander, damit Bibeltreue zwischen ihnen Platz nehmen kann.]
Bibeltreue. Wenn ich mich in diese philosophische Runde einklinken darf: Ich wage zu behaupten, dass die heutige Generation es keineswegs mit mehr Komplexität zu tun hat als die ihr vorangegangenen. Fragilità stimmt ein Lied an, das zur Zeit der Industrialisierung wohl genauso gesungen wurde wie während des Kolonialismus. Das Kernproblem ist und bleibt Adams Griff nach der Frucht. Die Sünde ihres Stammvaters spiegelt sich in den negativen Auswüchsen all dessen, was die Menschen in ihren jeweiligen Epochen als Fortschritt deklarierten.
Risposta. Das erscheint mir vernünftig.
Fragilità. Ihr Einwand, Bibeltreue, ist verständlich. Und doch spricht Ihr Argument letztlich für mich: Fragen der Menschenwürde, der Ethik und der Verantwortung (auch wenn sie nicht zu allen Zeiten so bezeichnet wurden) waren immer schon komplex und umstritten. Mich fesselt der Gedanke, dass all diese Kontroversen nicht einfach mit dem Eintritt in ein neues Jahrzehnt oder Zeitalter verschwunden sind. Somit ist unsere Zeit tatsächlich komplexer als die vorangegangenen: Die Fragen, die wir uns heute stellen, basieren auf denjenigen, die wir in der Vergangenheit unbeantwortet liessen und sind doch etwas ganz Neues. Es ist, wenn Sie den etwas bizarren Vergleich erlauben, wie eine Lasagne: Die ethischen und moralischen Ungewissheiten jeder Epoche überlagern sich, Schicht für Schicht, und je mehr Blätter, desto mehr Lasagne – je mehr komplexe Fragen, desto mehr Komplexität.
Bibeltreue. Die Metapher spielt mir in die Hände: Bei Lasagne wird immer dasselbe geschichtet, nämlich Teigblätter und Sauce. Und so sind auch die aus Ihrer Sicht kontroversen Fragen im Endeffekt von derselben Beschaffenheit. Es ist stets ein Konflikt zwischen Finsternis und Licht. Ich behaupte, dass der Mensch in den allermeisten Fällen weiss, was richtig ist. Komplexität wird vorgeschoben, wenn die Antwort unangenehm ausfällt.
Risposta. Damit, Fragilità, ist die eigentliche Frage auf dem Tisch. Ich befürchte jedoch, dass eine Diskussion, solange sie bei vagen Kategorien bleibt, kaum Frucht bringen wird. Fragilità, warum schlägst du nicht ein Beispiel vor? Eine Fallstudie sozusagen, an der wir das bis hierhin Gesagte überprüfen können.
Digitalisierung: Es gibt wohl kaum eine christliche Gemeinschaft, die das Internet nicht auf die eine oder andere Art nutzt oder deren Mitglieder nicht auf elektronische Mittel zurückgreifen, um mit ihrem Umfeld zu interagieren und ihre gesellschaftlichen Aufgaben wahrzunehmen. Traditionell christliche Praktiken wie Evangelisation, Gemeindearbeit und Wohltätigkeit werden durch Online-Dienste gestützt.
Zugleich gibt es kaum einen anderen Bereich, der ethisch so brisant wäre:
– Wenige, grosse Unternehmen ermöglichen die Digitalisierung.1
– Wahrscheinlich alle davon sind für fragwürdige Geschäftspraktiken bekannt, können jedoch kaum dafür belangt werden. Sie haben das Informations- und Datenmonopol.2
– Die Produktion der benötigten Geräte erfolgte in der Vergangenheit unter unzumutbaren Bedingungen für die Angestellten.3 Zum heutigen Stand finden sich kaum Informationen.
– Bei der Entsorgung dieser kurzlebigen Geräte können schwerwiegende Risiken für Menschen und Umwelt auftreten.4
Sündigt ein Christ, wenn er digitale Mittel verwendet und somit die genannten Dynamiken fördert?
Oder sündigt er, wenn er sich aus alledem zurückzieht und somit die Möglichkeit verliert, gute Werke zu tun?
Sollte er den Schaden in Kauf nehmen, weil der Nutzen grösser ist?
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Bild: Noah Negishi, Unsplash.
Wenn ich das nächste mal Lasagne esse, werde ich an diesen Blogg denken und mich daran erinnern, dass sich das, was schon immer war, immer ist und für immer sein wird: die Vergänglichkeit des Menschlichen und gleichzeitig die unvergängliche, wahrhaftige Gottheit!
Danke für die interessante Darstellung! 😘
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Vielen Dank für den Kommentar!
Es wäre interessant zu sehen, wie diese beiden Wahrheiten sich auf Entscheidungsprozesse in ethischen Fragen auswirken…
(Ich esse Lasagne übrigens aus Prinzip Schicht um Schicht. Vielleicht bin ich so auf diesen seltsamen Vergleich gekommen.)
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Sehr schöne Überlegung und täglich aktuell. Letztendlich ist es in der Nachfolge wichtig, dass wir uns redlich bemühen, dass wir reflektieren und das wir uns vor allen Dingen bewusst sind, dass wir immer und nur durch SEINE Gnade gerettet sind. Die Sünde hört nicht auf wie auch die Gnade nicht aufhört – bis zum Ende.
LG, Marcus
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Vielen Dank!
Das Wort „redlich“ ist mir in deinem Kommentar aufgefallen. Duden zur Wortherkunft: „…althochdeutsch redilīh, eigentlich = so, wie man darüber Rechenschaft ablegen kann…“
Entscheidungen so treffen, dass man mit gutem Gewissen Rechenschaft darüber ablegen könnte. Das erfordert wohl sehr viel Ehrlichkeit mit sich selbst und – angesichts der Tatsache, dass es der Heilige ist, vor Dem wir verantwortlich sind – sehr, sehr viel Gnade von Ihm…
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